„Die österreichische Lösung“ – mit diesem geflügelten Wort ist laut Wikipedia ein eher fauler Kompromiss gemeint. Es gibt bereits frühe Belege für diesen Ausdruck in den Medien aus dem Jahre 1904. Geblieben ist, dass die Österreicher immer wieder einen Kompromiss bei Verordnungen und Gesetzen finden. Bei unserer Lernaktivität im Oktober haben wir aber sehr viele gute Lösungen im Sinne von Antworten auf die vielen drängenden Fragen im Bildungssektor sehen können.
Als erstes war die Freude riesig, dass die beiden Partner*innen in Wien innerhalb von 14 Tagen ein super Programm für uns gestalten konnten. Leider konnte die geplante Lernaktivität in Rumänien aufgrund der hohen Inzidenzwerte dort nicht stattfinden. Durch das Wiener Programm “Alles gurgelt!” konnten wir jeden zweiten Tag einen PCR-Test machen und damit waren Hospitationen in verschiedenen Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Wohngruppen und anderen Betreuungseinrichtungen möglich.
Was hat uns beeindruckt oder überrascht? Im Kindergarten war sicherlich beeindruckend, dass alle Erzieher*innen ein Abitur vorweisen müssen und viele von ihnen sogar verbeamtet sind. Inhaltlich haben wir ganz unterschiedliche Konzepte gesehen. Überraschend war, dass nahezu nur an den kommunalen Einrichtungen Kinder mit Beeinträchtigungen aufgenommen werden. Sowohl im vorschulischen als auch im schulischen Bereich sind nicht alle Einrichtungen inklusive. Dies bedeutet, dass Kinder mit Beeinträchtigungen nicht an allen Einrichtungen aufgenommen werden können und somit keine Wahlfreiheit gegeben ist. Dieser Umstand wurde mit den erhöhten Kosten, die ein Integrationsplatz verursacht, erklärt. Die Zuschüsse der Stadt Wien für Kindergartenplätze sind gedeckelt, so dass private Einrichtungen die kostenintensiveren Plätze nicht vorhalten können. Der Österreich-weite Fachkräftemangel insbesondere im Sektor der Sonderkindergartenpädagog*innen ist ein weiterer maßgebender Faktor, weshalb ein inklusives und/oder integratives vorschulisches Platzangebot nur schwer auch auf den privaten Sektor ausgeweitet werden kann.
Überrascht hat uns auch der Personalschlüssel: In einer Regelgruppe befinden sich 25 Kinder mit einer Kindergartenpädagog*in und einer Assistent*in. Die Assistent*in absolviert eine ca. 80 stündige Fortbildung und ist für die Reinigungstätigkeiten in der Gruppe sowie die Zubereitung des Essens verantwortlich, zudem unterstützt sie die Kindergartenpädagog*in.
Sind Kinder mit Integrationsbedarf in der Gruppe, werden die Plätze der Gruppe entweder um bis zu zwei Plätze pro Integrationskind reduziert oder es kann ein*e zusätzliche Assistenzpädagog*in eingestellt werden. In diesem Fall werden die Plätze der Gruppe nicht reduziert. Die*der Assistenzpädagoge*in hat eine ca. dreijährige Ausbildung und darf auch allein in der Gruppe arbeiten.
Die Kindergärten in Wien sind für Eltern kostenfrei. Das ist sicherlich für viele Familien eine gute Entlastung. Zudem ist das letzte Kindergartenjahr, also das Vorschuljahr, in Wien für alle Kinder verpflichtend.
Im Schulbereich war das Mehrstufenmodell beeindruckend. Dies wird sowohl in der Grundschule als auch im weiterführenden Bereich eingesetzt. Die Schule kann selber entscheiden, ob sie entsprechende Klassen einrichten will. An beiden Schulen wurde von der hohen Akzeptanz sowohl bei den Eltern als auch bei den Schülern für das Mehrstufenmodell berichtet. Auch in Österreich gibt es einen Mangel an Lehrkräften, so dass diese Form des Unterrichtens ab diesem Jahr mit weniger zusätzlichen Stunden ausgestattet wird. Hierdurch erscheint es fraglich, ob sich diese Form des Unterrichtes auch zukünftig weiter etablieren wird.
Überraschend war für uns auch, dass nicht alle Schulen inklusive Schulen sind. Auch hier ist die Wahlfreiheit der Eltern eingeschränkt. Uns wurde berichtet, dass hierdurch jedes Kind die für seine/ihre Beeinträchtigung notwendigen Ressourcen sowohl in der Gestaltung einer entsprechenden Lernumgebung, als auch in der zusätzlichen Qualifizierung von Lehrpersonal erfährt – auch wenn dies mitunter zu längeren Schulwegen führt.
Die ganztägige Betreuung von Kindern ist auch in Wien ein wichtiges Thema. Hier haben wir sehr unterschiedliche Modelle gesehen. Im Bereich der Schule gibt es sowohl offene Ganztagskonzepte mit freiwilligen Angeboten als auch geschlossene Konzepte, bei denen sich die Freizeitangebote und die Lernangebote während des gesamten Schultages abwechseln. Die Freizeitangebote werden überwiegend von entsprechend ausgebildeten Freizeitpädagog*innen gestaltet. Überzeugend war hier auch das Modell einer Schule, in der die Schüler*innen sich für einen Zeitraum von jeweils 6 Wochen für ein Angebot angemeldet haben, anstatt sich für ein Schulhalbjahr festzulegen.
Für die deutschen Partnerinnen war tröstlich, dass auch in Österreich der Förderalismus ein großes Thema ist. Alles was wir kennengelernt haben, gilt für Wien. In allen anderen Bundesländern gibt es andere Konzepte, Lösungen und Ideen. Somit haben wir während unserer Lernaktivität nicht die österreichische Lösung kennengelernt, sondern die Wiener Lösung für den Bildungsbereich.